Dienstag, 8. Oktober 2019

Spinner - Benedict Wells

Autor: Benedict Wells
Titel: Spinner
Umfang: 316 Seiten
Preis: 12,00 Euro (D)
ISBN: 978-3257243840
Erschienen am: Neuauflage August 2016
Verlag: Diogenes

Seit über einem Jahr wohnt Jesper Lier nun schon in Berlin. Nach dem Abitur noch von großen Träumen und Wünschen angetrieben, sieht der Alltag im Vergleich dazu trist und farblos aus. Während andere 20-jährige das Leben auszukosten scheinen, eckt Jesper stetig an und ist auf Kriegsfuß mit seinen Mitmenschen, mit der ganzen Gesellschaft. Rückblickend erzählt Jesper dem Leser aus seinem Leben, von der entscheidenden Woche in Berlin, in der er durch die Stadt streift und lebensverändernde Entscheidungen treffen muss.
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"Und plötzlich stellte ich mir eine Frage, auf die ich einfach keine Antwort fand: Wer war eigentlich dieser langweilige und traurige Kerl, zu dem ich geworden war?" (S.49)
Jesper Lier hebt sich auf den ersten Blick stark von der Masse ab. Er lebt allein und zurückgezogen in einer Einzimmerwohnung, die eher an ein Kellerloch erinnert. Dort versucht er sich im Schreiben, tüftelt seit Jahren an seinem Roman "Der Leidensgenosse". Obwohl er gerade mal 20 Jahre jung ist, fühlt er sich furchtbar alt und ausgelaugt.  Über ernste und schwierige Themen redet er sehr ungern, weicht dem Konflikt eher aus und überspielt Unsicherheiten und Ängste mit dummen Witzchen. Jesper Lier ist sehr launenhaft. Mal laut, sehr wütend und agressiv, dann wiederum  kindlich, kindisch und nur am Scherzen, oder aber sehr isoliert, sensibel und verletzlich. Er agiert sehr impulsiv und trägt seine Gemütsverfassung offen zutage, sodass das ein oder andere Drama in der Öffentlichkeit nicht ausbleibt. Dem Titel gleich nimmt sich Jesper somit gelegentlich aus den Augen der anderen als "Spinner" wahr, oder wird direkt als solcher beschimpft.

"Zäh war er, und noch immer wollte er mich töten. Ich schoss erneut. [...] Und in diesem Moment wurde mir klar, dass der Wolf - einsam, hungrig und um sein Leben kämpfend - nichts anderes war als mein Spiegelbild." (S. 262)
Das Motiv des "einsamen Wolfes"  bindet der Autor immer wieder in die Geschichte, in Form von Albträumen und Tagträumen, ein, bis es schließlich zur "Konfrontation", zum Kampf "Auge in Auge" kommt. Jesper erkennt die Kongruenz zwischen sich und dem wilden Tier, was die endgültige Übereinstimmung der Eigenschaften bestätigt.
Denn gleich einem Wolf zieht er durch die Großstadt, geplagt von Verfolgungswahn und Angstzuständen. Er drängt sich selbst ins Abseits, indem er alles und jeden kritisiert und jeglichen Annäherungsversuch schließlich abweißt und mögliche Freunde von sich stößt. Durch diese Flucht in die Isolation schafft er es, die Konfrontation mit sich selbst, sprich seinen Problemen und Sorgen und bitter nötigen Zukunftsplänen, zu vermeiden.
Ohne es wirklich zu wissen führt der Protagonist einen Kampf gegen sich selbst. Er läuft davon und beurteilt und bewertet andere, ohne sich selbst dabei ins Auge zu nehmen. Indem er die anderen meint zu belügen, belügt er eigentlich hauptsächlich sich selbst.

"Ich will keine Entscheidungen mehr treffen., ich hab das so satt." (S.167)
Berlin ist ein Auffangbecken für Menschen Allerart. Besonders gerühmt wird die Hauptstadt für ihre "Toleranz", weswegen sie besonders attraktiv ist für AndersDenker, Quereinsteiger oder Aussteiger, Künstler, Experimentierfreudige, Nachtschwärmer... für jeden und das schon seit den 90ern, in denen der Roman vermutlich spielt. Doch nicht jeder findet auch die Balance zwischen Einsamkeit und Freiheit. Der Protagonist selbst beschreibt sich selbst als "gestrandet", ist nicht mehr begeistert vom Erscheinungsbild "Berlin". Und so harrt er aus, macht nichts ganzes und nichts halbes. Wie gelähmt ist er nicht fähig zu handeln, geschweige denn Entscheidungen zu treffen.
Der Autor befasst sich mit einem ernsten Thema und großen Problem, das ewig aktuell ist. Er zeigt die Suche junger Menschen nach dem eigenen Ich und dem eigenen Weg, dem eigenen Platz in der Welt. Sobald die Schule und somit der von der Gesellschaft eingezeichnete Pfad verlassen werden muss, stehen viele junge Menschen vor der großen Frage: "Und was nun?". Wie schwierig und nervenaufreibend die nachfolgende Zeit ist, das stellen vermutlich mehr Menschen fest als man denkt.

"Du bist gefangen in einer Welt zwischen Träumen und Realität. Alles ist möglich und nichts ist wirklich, und am Ende stellst du fest, dass es verlorene Zeit ist." (S.268)
Mit der Zeit verschwimmen Traum und Realität, gehen für Jesper nahtlos ineinander über. So kann er bald nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden. Er ist gefangen in seiner eigenen Welt, hängt fest zwischen ehemaligen Wünschen und Hoffnungen und den eigentlichen Tatsachen. Der Protagonist und handlungsunfähig. Die unbewusste Ohnmacht verhindert jeglichen Fortschritt
Wells vermittelt anschaulich dieses Gefühl der Ohnmacht und dem Druck, das bestmöglichste aus seinem Leben machen zu wollen. Fühlt sich der Ältere Leser zurück in diese Zeit "in der Schwebe" versetzt, so spricht er dem jungen Leser aus der Seele.

"Ich hatte den Tod ohnehin nicht verdient, ich konnte ihn doch gar nicht bezahlen, denn er kostete das Leben, und davon hatte ich noch viel zu wenig." (S. 128)
Auch die Schwere des Todes lastet auf Jesper Liers Schultern. Menschen aus seinem Leben vor Berlin sterben oder sind bereits gestorben, was Jesper immer wieder aus der Bahn wirft. Die Angst des Verlassen-werdens und Verlassen-seins summiert sich, ist ein weiterer wichtiger Punkt auf der Problemliste.
Der Autor lässt die Hauptfigur mit Depressionen und vielen düsteren Gedanken um den Tod kämpfen. Diese dunkle Stimmung wird allerdings immer wieder schnell abgelöst, denn auf den Todeswunsch folgt die Lust auf ein langes, im besten Fall erfülltes Leben.
(Das Motiv des "sensiblen Künstlers mit dem einzigen Ausweg: Tod" erinnert darüber hinaus entfernt an Goethes Werther.)

"Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurück kommt." (S.315)
Junge Anti-Helden gibt es viele. Doch egal ob sie Holden Caulfield oder Jesper Lier heißen, die größte Gemeinsamkeit liegt im Dauergefühl des Leidens. Ob Oma, Vater oder Onkel, oft wird in großen Tönen und Enthusiasmus von der Jugend erzählt. Die zu diesem Zeitpunkt Jugendlichen jedoch reagieren genervt auf die immer gleichen Tiraden. Denn während Oma, Vater oder Onkel ihren Weg vermeidlich schon gefunden haben, so muss sich der junge Mensch erst zurechtfinden im Supermarkt der Möglichkeiten. Man fühlt sich überfordert und unwohl: Man leidet.
Auch Benedict Wells beschreibt diesen Gemütszustand, der bei vielen jungen Menschen auftritt. Besonders gut gelungen ist ihm hierbei das Resümee: Er lässt Jesper über die Zeit der Jugend hinausblicken und gibt ihr ein Verfallsdatum. Er beschreibt die unschöne und gefährliche Seite der Jugend, sprich der Möglichkeit sich selbst zu verlieren. Er führt dem Leser aber auch all die Freiheiten und Optionen vor Augen, die dem älteren, an Verpflichtungen gebundenen Menschen nicht mehr zur Verfügung stehen.

"Es klingt hart, aber am Ende schien er auch nur einer dieser mutlosen Leute zu sein, die hinter dem Geld her sind und ihre Träume aufgegeben haben. Ich glaube, vor allem diese Traum - und Phantasielosigkeit konnte ich nie akzeptieren, ich fühlte mich verraten." (S.70) ... "Die warten alle bloß, dass ich auf Sicherheit setze und mich anpasse - wie mich das ankotzt." (S.84) ... "Das sagte ich mir jeden Tag. Ich war keiner von ihnen." (S. 20)
Immer wieder im Fokus der jugendlichen Kritik: Die verlogene (phony) Gesellschaft, in der Erwachsene die wahren Dinge aus den Augen verloren zu haben scheinen. Die Wertevorstellungen haben sich verändert. Es geht nicht mehr um Träume und Kreativität, sondern um Konsum, um Geld, um Macht. Das Spießertum der immer gleich langweiligen Erwachsenen lässt grüßen.
Für den empfindsamen (Anti-)Helden der Geschichte ist diese Welt der Erwachsenen verwerflich, nicht zu ertragen, mehr als schmerzhaft. Gleich Salingers "Der Fänger im Roggen" ist lediglich der Jugendliche, der im Übergang von der Kinderwelt zur Erwachsenenwelt steckt, fähig, diese negative Entwicklung zu sehen. Es findet eine brutale Desillusionierung statt und das einzige, wozu der (Anti-)Held danach noch fähig ist, ist eine totale Ablehnung und Boykottierung.

"[...] wenn nicht noch ein Wunder passiert, dann geht mein Leben wohl den Bach runter. Das einzige, was ich jetzt noch tun kann, ist, es wie einen Unfall aussehen zu lassen." (S.50)
Trotz der Traurigkeit als auch den ernsten Themen, die sich zwischen den Zeilen tummeln, verpackt der Autor das Ganze gleich einer Tragikomödie. Benedict Wells schafft es, durch die  sehr amüsante Erzählstimme des Jesper Lier eine rhetorische Leichtigkeit mit der thematischen Schwere zu verbinden, in der die Leichtigkeit schließlich die Überhand gewinnt. So muss man oft schmunzeln oder lachen über die Wahrnehmung und das Verhalten Liers, das oftmals sehr komisch und lustig verrückt ist.

"Alles nur Schein, ich glaube sogar, dass Sie den wahren Kern Ihres Romans selbst nicht kennen" (S.213)
Spinner ist Benedict Wells Erstlingsroman, der allerdings nicht als erstes veröffentlicht wurde. Das erste Mal 2009 erschienen, gibt es nun eine überarbeitete Fassung ab Oktober 2016 zu kaufen. Im Vergleich zu seinem letzten Werk fallen nicht nur thematische Überschneidungen (Tod, Liebe, Existentielle Fragen wie die Suche nach dem eigenen Ich) auf, sondern natürlich auch rhetorische Unterschiede. Während der Erzählstil lockerer und jugendlicher ist, so sind Metaphorik und die damit verbundenen Schlüsse weniger subtil (siehe Wolfsmotiv). Nichtsdestotrotz bietet Spinner, das Wells mit gerade mal 19 Jahren schrieb, eine tolle Geschichte, ausgewogen an jugendlichem Charme, Situationskomik und der ernsthaften Identitässuche.

Zusammengefasst: Benedict Wells erzählt von der Odyssee eines Außenseiters, einem empfindsamen Anti-Helden auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. Mit Witz und Charme greift Wells den Stoff des jugendlichen Aussteigers wieder auf und lässt seinen Protagonisten ehrlich und überzeugend von einer der schwierigsten, vielleicht der schwierigsten Zeit des Lebens erzählen.

5/5*

Sonntag, 22. September 2019

Der Trick - Emanuel Bergmann

Autor: Emanuel Bergmann
Titel: Der Trick
Umfang: 400 Seiten
Preis: 22,00 Euro (D)
ISBN: 978-3257069556
Erschienen am: Februar 2016
Verlag: Diogenes

Die Eltern von Max wollen sich scheiden lassen. Als der Vater schließlich seine sieben Sachen packt, stößt der Junge auf ein altes Überbleibsel aus der Jugendzeit seiner Eltern: Er hört zum ersten Mal von Zababatini, dem großen Zauberer des 20. Jahrhunderts.Von neuer Hoffnung erfüllt macht sich Max auf die Suche nach dem einst großen Zabbatini, um eine endgültige Trennung zu verhindern.
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Anhand von zwei Erzählsträngen baut der Autor manchmal etwas zu langsam die Geschichte auf. Dabei berichtet er einerseits vom Jungen Mosche (der in die Welt hinauszieht um sich selbst zu verwirklichen) und andererseits vom kleinen Max, (der sich auf die Suche nach einem Gegenmittel für die Auflösung seiner Familie macht). Diese Stränge setzen in zwei unterschiedlichen Zeiten an - Beginn des 20. und des 21. Jahrhunderts - und zeigen nicht nur unterschiedliche Weltbilder, sondern auch zwei unterschiedliche Bilder von ein und derselben Person:

Zabbatini wurde nicht als Zauberer geboren. Aus verworrenen Verhältnissen stammt der Junge, der im frühen Alter seine Faszination für alles Magische entdecken wird. Über Jahre kann der Leser seine Entwicklung beobachten. Man wird Zeuge seiner ersten Erfahrungen und seines Werdegangs als Zauberkünstler. 
Seine Geschichte wird einerseits von Anfang an beleuchtet, andererseits auch vom Ende her. Es wird deutlich, dass aus dem einst neugierigen Kind ein mürrischer alter Mann geworden ist. Die Gründe für diese Entwicklung bleiben jedoch erst mal verdeckt. 

Max bringt ungewollt diese Gründe ans Tageslicht. Dabei ist der eigentliche Grund seines Engagements die Hoffnung, die Scheidung seiner Eltern zu verhindern. Für dieses Ziel ist ihm kein Hindernis zu groß. Er beweist Hartnäckigkeit und vor allem großen Glauben an die Macht der Magie. Dieser kindliche und unerschütterliche Glaube hebt ihn deutlich von seinen Altersgenossen ab, denen er ansonsten in vielen Punkten gleicht. 

"Die Magie ist eine wunderschöne Lüge." (S. 158) "Die beste Lüge [...] ist die Wahrheit." (S. 235) 
Neben einfacher Taschenzauberei und simplen Zirkustricks geht es ebenfalls um Illusionen. Es geht um Ablenkung, aber auch Verschleierung der Wirklichkeit. Oder aber um die unterschiedlichsten Wahrnehmungen der niemals objektiven "Wahrheit".
Der schönste und bedeutsamste Trick Zabbatinis ist ebenfalls der Trick, der am wenigsten vom Zuschauer - dem Leser! - erwartet wird. 

Im Verlauf der Geschichte nimmt das Thema des Nationalsozialismus einen immer größeren Stellenwert ein. Ist zu Beginn lediglich am Rand die Rede von den politischen Entwicklungen in Deutschland, so muss sich Mosche mit der Zeit immer stärker mit dem Thema auseinandersetzen; zwangsweise, denn auch er hat jüdische Wurzeln. 
Emanuel Bergmann nähert sich schrittweise der Zeit des Nationalsozialismus. Erst mit dem Voranschreiten des Romans bemerkt der Leser, welchen Einfluss diese Zeit noch auf das Geschehen haben wird. Spannend werden die Folgen und Ereignisse des Holocaust erzählt, durchdacht mit der Geschichte verwoben.
In diesem thematischen Zusammenhang stehen ebenfalls die Themen Tod und Vergangenheit. Nicht nur der alte Zabbatini, sondern die meisten Erwachsenen sind stark geprägt durch die Vergangenheit. Diese Tatsache begreift Max bereits in früher Kindheit: "Das seltsamste [...] war, dass sie fast nur von Leuten sprach, die gar nicht mehr lebten. Die Toten nahmen in ihrem Leben einen weitaus größeren Stellenwert als die Lebenden ein." (S. 63f.) 

Zusammengefasst: Emanuel Bergmann schreibt anhand des Motivs "der alte Mann und das Kind" über den Glauben an ein Leben voller Wunder und Magie in Zeiten schwindender Menschlichkeit und Hoffnung. Er verknüpft dies mit den Themen "Tod" und "Vergangenheit". Stilistisch als auch vom Erzähltempo der Geschichte ist das Werk durchwachsen, mal sehr fesselnd, mal vor sich hin plätschernd.

3/5*

Mich persönlich konnte die Geschichte nicht direkt begeistern. Aufgrund des personalen Erzählers begann ich erst langsam mit Mosche warm zu werden. Bei Max erging es mir etwas besser, vor allem da der Autor sich besonders originell und authentisch in den kleinen Jungen hineinversetzt. 
Hinzu kommt, dass für mich die Ereignisse erst gegen Mitte des Buches spannender wurden (Stichwort Nationalsozialismus), dass ich mich mehr auf das Lesen freute. Der  Schlussteil also, und somit die Auflösung der Geschichte, war der für mich interessanteste, wenn auch nicht gerade realistischste Part. 
Der Schreibstil war mir an manchen Stellen zu märchenhaft gestaltet. Dennoch ließen sich das ein oder andere schöne Zitat finden. 

Freitag, 20. September 2019

Abbitte - Ian McEwan

Autor: Ian McEwan
Titel: Abbitte
Umfang: 544 Seiten
Preis: 13,00 Euro (D)
ISBN: 978-3257233803
Erschienen am: März 2004 (22. Auflage) 
Verlag: Diogenes

Enlgand, 1935. Es ist ein heißer Sommer, als die 13jährige Briony Tallis das Leben dreier Menschen, einschlossen ihrem eigenen, für immer verändern wird. Denn als sie Zeugin mehrerer kleinerer Vorfälle wird, als sie die Zeichen der aufkeimenden Liebe zwischen dem Angestelltensohn Robbie und ihrer großen Schwester Cecilia falsch interpretiert, begeht Briony Rufmord. Und während  die Jahre vergehen und der zweite Weltkrieg ausbricht, versuchen alle Drei die schweren Folgen jenes  verhängnisvollen Sommers zu überleben.
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Die „kleine“ Briony zeichnet sich besonders durch ihre große Fantasie aus. Gleich zum Einstieg der Geschichte sitzt das Mädchen tief gebeugt über ihre Schreibmaschine und verfasst ihr erstes Theaterstück, ihrem großen Bruder zu Ehren. Zur Aufführung  wird es allerdings nie kommen, denn Briony muss auf für sie schmerzliche Weise erkennen, dass ihre Geschichte zu kindlich, zu unrealistisch ist. Sie weiß sich in der Station zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Umso dringender ist sie auf der Suche nach einer neuen Geschichte und findet Gefallen an Cecilias und Robbies Beziehung, in die sie sich einmischt und die sie manipuliert. Naivität vermischt mit Unerfahrenheit und Selbstverliebtheit ist es also zu verschulden, dass Briony die Fakten verdreht und sich wie in ihren Geschichten ihre eigene Wahrheit kreiert. Sie lügt und doch lügt sie nicht, will sie selbst doch so fest an die Schuld des einen und die Unschuld des anderen glauben.
So findet Briony ihren Stoff, aus dem ihre wichtigste Geschichte gemacht sein wird. Der Preis ist hoch. Er kostet sie ihre Bindung zu Cecilia, der sie stets nacheifert, zu Robbie, der sich um sie wie um eine kleine Schwester kümmert, aber vor allem ihr Gewissen und ihre Schuldlosigkeit.

Robbie, aus mittellosem Haus, genießt das Glück mit den Kindern der Familie Tallis aufzuwachsen und von Mr. Tallis finanziell unterstützt zu werden. Er ist liebevoll und gutmütig, kennt Bescheidenheit. Neben seinem Hobby der Landschaftsgärtnerei interessiert er sich für Literatur aber auch die Medizin, der er sich in einem Studium widmen möchte. Er ist derjenige, der zuerst einen Schritt Richtung Cecilia und damit auch einen Schritt Richtung Ende macht. Das Glück, das Robbie in jendem Sommer voller Möglichkeiten empfindet, schwindet von jetzt auf gleich und bestürzt und empört. Ohne Grund (oder aus falschen Gründen) trifft es ihn. Er wird zum Leidtragenden, zum zu Unrecht verurteilten Helden.

Die scharfsinnige Cecilia nimmt im Verlauf des Romans immer weniger Raum ein, vor allem im Vergleich zu Briony. Dennoch zeichnet sich eine ständige Präsenz ihrerseits ab,  in den Gedanken der anderen beiden Figuren beispielsweise. Was deutlich hervorsticht sind Cecilias Stärke und Durchhaltevermögen. Sie besitzt eine sehr autoritäre Ausstrahlung, was nicht nur bei ihrer Berufswahl als Krankenschwester von Vorteil ist. Hingabe sowie unerschütterliches Vertrauen bringt sie Robbie entgegen. Sie beweist Rückgrat und steht bedingungslos hinter ihm, auch wenn dies heißt sich von der gesamten Familie abzuwenden. 

Ian McEwan beweist sein Können und entwirft tiefgründige und vielschichtige Figuren. Während Robbie und Cecilia die Sympathieträger sind, so lässt der Autor schließlich Briony als Protagonistin und eigentliche Erzählerin der Geschichte hervortreten, gleichwohl sie dem Leser zu aufdringlich und unangenehm erscheinen mag. Als Kind besonders nervig, so ist sie im Alter feige und schafft es lediglich in ihrer Fantasie gewisse Fehler zu begleichen.

Wenn es auch nicht ausschließlich im Mittelpunkt steht, so ist das Thema Liebe eine der tragenden Komponenten des Romans. Zu Beginn liegt eine Spannung in der Luft. Es knistert. Die Liebesbeziehung Cecilias und Robbies beruht auf flüchtigen Augenblicken, heimlichen Berührungen, unausgesprochenen Worten und großen Versprechen. Dass die beiden Figuren zueinander gehören aber nicht zueinander finden dürfen, darin besteht die große Tragik. Erst getrennt durch Gefängnis, dann durch den vom Krieg, versuchen die beiden standhaft zu bleiben und um ihre Liebe zu kämpfen. Ohne ins Kitschige abzudriften erzählt McEwen von der großen Liebe und lässt den Leser den Atem anhalten. Er lässt dabei Cecilia die entscheidenden und wunderbar ergreifenden Worte, mit denen er die Hoffnung aller schürt, finden: "Komm zurück [Robbie]. Komm zurück zu mir."

Wie bereits erwähnt wirft der Krieg seinen Schatten auf die bereits düsteren Ereignisse. Während Briony mit dem Krieg durch ihren Job als Krankenschwester konfrontiert wird, kämpft Robbie an der Front. McEwen schildert die schreckliche Zeit mehr als mitreißend. Es gibt laute Szenen voll Gewalt, Krankheit, Verletzungen und Tod, aber auch leise, in denen die Menschen ermüdet und den Krieg leid sind, sich umeinander kümmern, zuhören und trösten. 

Ein weiteres wichtiges Thema ist das der Schuld. Der Autor zeigt  wie ein Moment, das Leben für immer beeinflussen kann. Dabei beweist er Einfühlungsvermögen und schildert authentisch, wie  das restliche Leben von der Tat beherrscht und beeinflusst wird, wie  die Gedanken sich ungewollt nur noch um den Vorfall kreisen. Einem Schatten gleich folgen - in diesem Fall Briony - die Fehler der Vergangenheit, holen sie schließlich ein, werden zu ihrem Lebensinhalt.

Der internationale Bestseller wurde 2007 von Joe Wright mit Topbesetzung (Keira Knightley, James McAvoy, Benedict Cumberbatch uva.) verfilmt. Fast bis zum Schluss hält sich der Regisseur sehr stark an die Romanvorlage und weicht lediglich am Ende ab, indem er den Inhalt, anders als der Autor, nicht darstellt sondern erzählen lässt. 
Die Verfilmung überzeugt mit großartigen und stimmungsgeladenen Bildern, talentierten Schauspielern und großen Gefühlen, aber vor allem einer großartigen Filmmusik. Nicht umsonst gewann Dario Marianelli einen Oscar für den besten Filmsoundtrack. Er unterstreicht die unruhige und gespannte Atmosphäre perfekt. Ebenso genial ist das Leitmotiv der tippenden Schreibmaschine, der klackenden Tasten. Das Geräusch, dem Rhythmus einer  tickenden Uhr gleich, wird immer wieder aufgegriffen in den verschiedensten Formen und großartig eingebaut in die Musik. Dieser langsam anschwellende Laut ist die Maschinerie, die treibende Kraft die hinter allem steckt, auch Schicksal genannt. Unaufhaltsam nimmt es seinen Lauf. Es geht ohne Pause voran, marschiert im Gleichschritt Richtung Zukunft. 

Zusammengefasst: Ian McEwan beschreibt in seinem Roman eine Familie, die auseinander gerissen, und ein Paar, das entzweit wird durch die bloßen Worte eines Kindes. Vor der Kulisse des 2. Weltkrieges geht es neben dem großen Thema "Liebe" um Schuld und um Reue. Am Anfang vom Autor etwas zu detailliert und langatmig, ab dem Mittelpart aber genau richtig, d.h. spannend und mitreißend, erzählt. Eine besondere und sich von der Masse abhebende Liebesgeschichte, die lesenswert ist!

Ich persönlich bin im Nachhinein sehr beeindruckt von der Geschichte. Ich hatte allerdings meine Schwierigkeiten mit Briony. Ich konnte die Abscheu gegen die kleine verwöhnte Nervensäge einfach nicht abschütteln. Noch besser hätte mir die Geschichte gefallen, wenn die Liebesgeschichte  oder Cecilias späteres Gefühlsleben noch mehr Raum, Briony dafür weniger, bekommen hätten.
Im Film ist dieses Verhältnis ausgewogener und übertrifft in Punkt Atmosphäre und Tragik den Roman, sodass die Verfilmung mir mehr Begeisterung und Gefühl entlocken konnte.

*4/5

Samstag, 31. August 2019

Der Zementgarten - Ian McEwan

Autor: Ian McEwan
Titel: Der Zementgarten
Umfang: 206 Seiten
Preis: 11,00 Euro (D)
ISBN: 978-3257206487
Erschienen am: Januar 1999
Verlag: Diogenes

Der Vater ist tot, die Mutter stirbt. Was bleibt sind 4 Kinder - Julie, 16. Jack, 15. Sue, 13. Tom, 6. -, die sich ihre eigene Ordnung schaffen. Abgekapselt von Gesellschaft und Öffentlichkeit gestalten die Geschwister den Alltag ihrer Sommerferien,  wohl wissend und doch nicht richtig begreifend, dass die verräterische Leiche im Keller langsam aber stetig verwest.

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"Ich war am Ersticken. Alles was ich anschaute, erinnerte mich an mich selbst. [...] Ich nahm jeden losen Gegenstand und verstaute ihn im Kleiderschrank, bis das Zimmer kahl war." (S.187)
Jack, der zeitgleich Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte ist, schildert von Beginn  an die Geschehnisse aus seiner Sicht. 
Jack ist, wie die gesamte Familie, eher der Typ Einzelgänger. Es kommt der Zeitpunkt, an dem ihm körperliche Pflege und Hygiene schlicht egal sind, dass ihn ein unangenehmer Geruch ununterbrochen umgibt, was Mutter und Schwestern schier zur Weißglut treibt. Während er die Nähe zu seinen Schwestern regelrecht sucht, geht er auf Distanz zu seiner Mutter. 
Bereits vor dem Tod der Mutter konkurriert der junge Jack mit dem Vater um die Position innerhalb der Familie. Sein Tod trifft Jack nicht. Er ist lediglich fixiert auf den Wunsch mehr Verantwortung zu übernehmen, auch, um Mitspracherecht und Kontrolle zu haben. 
Die Emotionen wechseln sich ab, sodass Jacks Gefühle verrückt zu spielen scheinen. Mal aggressiv und ruhelos, ist er im nächsten Augenblick in Erinnerung an glückliche Zeiten versunken und versetzt sich in die Vergangenheit voll Kindergeschrei und Lachen zurück. Immer wieder gibt es Momente der Selbstbetrachtung und der Frage nach dem "Wer bin ich". 


"Wie leicht es war, jemand anderer zu sein." (S. 108)
Nach dem Ableben der Mutter wird schnell sichtbar, dass sich die bisherigen "Rollen in der Familie", die die Geschwister noch zuvor besetzten, stark verändern. Besonders deutlich hervor tritt dieser Rollentausch bei Julie und Tom. Während Julie die Rolle der Mutter und somit Autoritätsperson einnimmt, so ist die Entwicklung des Nesthäkchens Tom rückläufig. Hing er vorher schon am Rockzipfel der Mutter, so verhält er sich nun im Kreis seiner Geschwister wie ein Baby und möchte stetig von Julie versorgt werden. Hinzu kommt, dass Tom ebenfalls zur Geschlechtsrolle des Mädchens wechseln möchte und von seinen älteren Schwestern mit Kleidern und Perücken ausgestattet wird. Empfindet Jack diesen Wandel vom Jungen zum Mädchen zuerst noch als unangenehm und peinlich, so greift er später auf die Argumente seiner empörten Schwestern zurück und verteidigt Toms Verkleidung gegenüber dritten. 


"Die meisten Häuser waren vollgestopft mit unbeweglichen Gegenständen, jeder an seinem Platz, und jeder mit seinen Befehlen - da hatte man zu essen, da zu schlafen, da zu sitzen. Aber an diesem ausgebrannten Ort gab es keine Ordnung, alles war verschwunden." (S.55)
Eines der Leitmotive ist die Suche nach und das Fehlen von Ordnung. Nach und nach zerfällt jegliche Struktur. Innerhalb der Familie werden übliche Muster und Regeln durchbrochen, sodass das klassische Familienbild und die damit einhergehenden Rollen aufgehoben werden. Das einzige, was gleich bleibt, sich wiederholt ist die Figurenkonstellation à la "Vater-Mutter-Kind", die die Geschwister wie automatisch zu imitieren versuchen. 
Innerhalb der vier Wände ist es dreckig und auch außerhalb beginnt das Unkraut zu wuchern und sprießen. Das Chaos verdrängt  Immer deutlicher fällt der Zerfall des Hauses, aber auch der gesamten Wohngegend auf. Somit lenkt der Autor vom Mikrokosmos Familie zum Makrokosmos Gesellschaft und verknüpft die beiden Ordnungssysteme miteinander. 


"Die Oberfläche des Zements war von einem riesigen Spalt durchzogen, an einigen Stellen bis zu einem Zentimeter breit." (S. 173)
Der Vater stirbt bei dem Versuch einen Zementgarten anzulegen. Diese Aufgabe, die nie vollendet werden wird, ist Namensgeber des Romans. Der Titel des Buches ist somit zeitgleich ein Paradoxon. Denn in einem Garten aus Zement kann nichts blühen und gedeihen. Der Zement begräbt vorerst unter sich alles Leben Diese künstliche, planmäßige wird auf Dauer jedoch nicht bestehen bleiben.
Um die Gefahr zu umgehen, dass Außenstehende nun auch vom Tod der Mutter erfahren und daraufhin das Amt einschalten, wird diese im Keller einzementiert. Eine große schwarze Kiste wird zum Sarg umfunktioniert, aufgeschüttet mit selbst gemischtem Zement. 
Doch Witterung und Zeit tun ihr übriges und der Zement beginnt zu bröckeln und zu reißen. Durch die Ritzen entweicht der Gestank und zirkuliert durch das Haus. 
Abstrakter gesehen: Geheimnisse, destruktive Dinge lassen sich nicht einzementieren oder im dunklen Keller verstecken. Sie finden immer wieder ihren Weg ins Tageslicht. 


"Sofort war ich von der Hitze wie erstickt, Schweiß prickelte mir auf der Haut. Aber ich blieb entschlossen liegen und träumte vor mich hin." (S. 181)
Über allem liegt nicht nur der Gestank der Verwesung, sondern auch eine besonders drückende Hitze. Die Sonne knallt, das Licht außerhalb des Hauses ist grell. Einer Fatamorgana oder einem Lichtfimmern gleich wirken die Ereignisse surreal. Diese von Ian McEwan  ausdrucksstarke, bedrückende Atmosphäre umgibt die gesamte Erzählung und verleiht ihr einen schalen Beigeschmack sowie das Gefühl von Schwere und Trägheit.
Diese (alb)träumerische Stimmung wird unterstützt durch Motivik und Metaphorik McEwans. So ist das Schlusswort besonders bedeutungsvoll: "War das nicht ein schöner Schlaf?" (S.206)

"Sie nahm wieder eine Brustwarze in die Finger und suchte damit meinen Mund. Wie ich daran saugte, und derselbe Schauder den Körper meiner Schwester durchlief, hörte und spürte ich einen tiefen, regelmäßigen Pulsschlag, dumpfes langsames Pochen, das aus dem Haus aufzusteigen und es zu schütteln schien." (S. 202)
Die sexuelle Neugier der Kinder ist groß. Als die Doktorspiele mit dem Tod des Vaters aufhören, findet der sexuelle Kontakt lediglich in Jacks Gedanken statt. Dennoch liegt eine gewisse Anspannung in der Luft. Als Derek, ein Verehrer Julies, auftaucht und versucht sich einen Platz in der Familie zu schaffen, beginnt der Konkurrenzkampf. Doch Derek bleibt außen vor. Er schafft es nicht die intrafamiliären Bindungen  zu brechen oder zu durchdringen. Und während Julie und Jack das erste Mal miteinander schlafen und keinen Hehl daraus machen, zertrümmert Derek sowohl Inneneinrichtung als auch den Zementsarkophag...die Überbleibsel einer Familie. 

Zusammengefasst: Ian McEwan präsentiert anhand einer Familie eine Gesellschaft,  die "Leichen im Keller versteckt hat". Eine Gesellschaft, in der sich trotz Verwilderung und Unordnung altbewährte Rollenbilder durchsetzten, wenn auch in Verbindung mit pervertierten Werten und Normen. 
McEwan erzählt eindringlich und schonungslos, übertritt Komfortzone und bricht Tabu, dass es dem Leser zu unangenehm und intensiv werden kann...denn das Hinblicken ist unumgänglich.

*4/5

Samstag, 17. August 2019

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Autor: Benedict Wells
Titel: Vom Ende der Einsamkeit
Umfang:355 Seiten
Preis: 22,00 Euro (D)
ISBN: 978 3 257 06958 7
Erschienen am: Februar 2016
Verlag: Diogenes

Jules und seine beiden Geschwister Liz und Martin sind noch Kinder, als sie ihre Eltern verlieren. Fortan ist jeder sich selbst überlassen, versucht allein die Zeit des Erwachsenwerdens zu überstehen und das klaffende Loch, das man ihnen in die Brust gerissen hat, zu verarzten. Jahrzehnte vergehen und die Wege der ungleichen Kinder,Jugendlichen,Erwachsenen trennen und kreuzen sich. Während Liz sich im vollen Rausch ins Leben stürzt und Martin seine ersten Geschäftsideen entwickelt, weiß Jules nicht, welche Richtung er einschlagen soll. Auf der Suche nach sich selbst und dem Ende der Einsamkeit stetig im Gepäck: Erinnerungen an die unglücklichen Ereignisse der Vergangenheit aber auch an Glücksmomente der Freundschaft und Liebe.

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"Das Kind ist der Vater des Mannes." (S.353)
Die Figuren der Geschichte entsprechen keinen bestimmten Stereotypen. Es gibt zu viele kleine Details - wie Hobbys, Träume,Wünsche, Haltungen - die den Charakteren einen besonderen Glanz verleihen. Besonders Jules, der Protagonist und Ich-Erzähler, überzeugt durch Authentizität.
Jules Moreau ist erst sieben Jahre alt, als sich sein Leben für immer ändert. Umzug ins Internat, Rückzug in sich selbst. Den kleinen aufgeweckten Jungen gibt es nicht mehr. Die Bezugspersonen von früher - Vater, Mutter, Schwester, Bruder - sind kein möglicher Fixpunkt mehr. Jules ist ohne Halt und Orientierung. Vor allem in Kindheit und Jugend kämpft er gegen das Alleinsein und große Verlustängste. Oft träumt er sich in andere Welten und überlegt, was passiert wäre, wenn die Dinge einen anderen Lauf genommen hätten. Er denkt sich zurück in die gemeinsame Zeit mit den Eltern und versucht diese zwei großen Persönlichkeiten zu begreifen. Neben dem Fotografieren und Grübeln gilt sein Interesse dem Schreiben, für das er ein großes Talent zu besitzen scheint.
Durch Jules Augen zeigt Benedict Wells die Welt. Es ist eine Wahrnehmung mit besonders feinen Antennen. Die Sensibilität des Protagonisten sowie die Reflexion seinerseits über das Erlebte machen ihn zu einer besonderen Hauptfigur, der man sich unheimlich nahe fühlt.

"Wie ein Schiffbrüchiger, der unermüdlich an den Knöpfen eines Funkgeräts dreht, in der Hoffnung, endlich auf eine Stimme zu stoßen. Doch alles, was [...] kam, war jahrelanges Rauschen." (S.74)
Martin und Liz gehen mit ihrer Trauer ganz unterschiedlich um, und damit letztlich auch einen anderen Weg der Trauerbewältigung als Jules. Liz sucht Lärm, Geschwindigkeit, Nervenkitzel, Ekstase um der inneren Leere und Stille zu entgehen. Martin vertieft sich noch mehr in seine Fachbücher und vertritt fortan das Prinzip des Nihilismus, um das Geschehene zu ertragen. Und obwohl sich alle aus den Augen zu verlieren scheinen, so bringt sie das Alter wieder zusammen. 
Am Beispiel der Geschwister verdeutlicht der Autor ausdrucksstark den Schmerz und den schwierigen langjährigen Prozess des Überwindens der Einsamkeit. Er vermag es, trotz der vielen Differenzen zwischen den dreien, das Bild des Zusammenhalts innerhalb der Familie überzeugend zu zeichnen.  
So sentimental man bei den vielen Schicksalsschlägen ist, so erfreuen und beleben einen die kleinen Momente des Glücks. Besonders die vielen Rituale, die ihren Ursprung in der Kindheit der Geschwister finden und als Erinnerung oder gar in der Gegenwart wieder aufleben, zeugen von Liebe, Geborgenheit und Zusammenhalt. Ebenso zeichnen sich bestimmte Verhaltensmuster über die Generationen hinweg ab. Es werden (unbewusste) Gemeinsamkeiten beispielsweise deutlich zwischen Vater und Sohn und dessen Sohn.

"Da war eine Vertrautheit zwischen uns, die unendlich schien; wie zwei Spiegel, die einander spiegelten." (S.274)
Einen Freund zu haben, der einem in schweren Zeiten beisteht und die schönen Augenblicke mit einem teilt, danach suchen die meisten Menschen ein Leben lang. So auch Jules. Im Internat entwickelt sich eine ganz besondere und tiefe Freundschaft zu Alva, einem gleichaltrigen, außergewöhnlichen Mädchen. Die Beziehung der beiden, die der Leser auch hier über unterschiedliche Altersstufen begleitet, entwickelt sich stetig. Sie wird überschattet von Selbstzweifeln und Existenzängsten, gefüttert von tiefer Verbundenheit, insgeheimen Gemeinsamkeiten und geteilter Vergangenheit. Die aufkommenden Gefühle gehen über Freundschaft oder Liebe hinaus. Der Autor beschreibt dieses Band der Nähe und Vertrautheit mit Feingefühl.

"Was wäre das Unveränderliche in dir? Das, was in jedem Leben gleich geblieben wäre, egal, welchen Verlauf es genommen hätte? Gibt es Dinge in einem, die alles überstehen?" (S.275)
Benedict Wells Figuren, allen voran der Protagonist, stellen sich immer wieder existentiellen Fragen. Vor allem die Frage nach dem Eigenen Ich - Wer bin ich; Warum bin ich ich; Warum ist das 7 jährige Ich dem 30 jährigen Ich so ungleich - beschäftigen Jules mit zunehmendem Alter. Er sucht nach der Stabilität, Konstanz, Beständigkeit der eigenen Persönlichkeit. Er sucht nach dem Etwas im Inneren, was den Launen des Lebens Widerstand leistet und stets unbeeinflusst bleibt; vorausgesetzt dieses Etwas existiert. 
Der Autor kurbelt den Denkprozess an und öffnet dem Leser zahlreiche Türen zu schwierigen Fragen. Er inspiriert und liefert Anregungen. ...denn wenn nichts in uns Unveränderlich ist, dann sind wir dem Leben hilflos und bedingungslos aufgeliefert. Einem Spielball gleich verformt uns alles, was uns widerfährt. Gäbe es uns mehrmals aber mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, so würde jegliche Ähnlichkeit fehlen. ...aber was ändert es, wenn es in unserem Kern Eigenschaften, Gedanken und Haltungen gibt, die resistent unserer Daseinsform sind? 

"Alles ist eine Saat. [...] Das alles wird in mir gesät, aber ich kann nicht sehen, was es aus mir macht. Erst wenn ich ein Erwachsener bin, kommt die Ernte, und dann ist es zu spät." (S.67)
Alle Erfahrungen, die wir sammeln, alle Enttäuschungen, die wir ertragen, alle Erfüllung, die wir auskosten... die Vergangenheit prägt die Zukunft. Sich von dieser nicht überwältigen zu lassen und aktiv das Leben und seinen Lauf selbst in die Hand zu nehmen, das ist unfassbar schwer. Der Roman zeigt deutlich, wie allgegenwärtig und unmöglich abzuschütteln die Vergangenheit ist. Und doch demonstriert der Autor, dass es machbar ist, wieder Herr über sich selbst und seine Handlungen zu werden. Dabei lässt Wells immer wieder das Motiv des von der Vergangenheit gezeichneten Menschen erscheinen, zeigt es über verschiedenen Generation hinweg und beweist somit seine ewige Aktualität.

"Der Ast sticht mir ins Herz. Ich verblute auf der Stelle, alles wird warm und hell, sehr angenehm und zugleich das trostloseste Gefühl, das ich jemals hatte, weil ich alles loslassen muss und alles verliere...". (S.134)
Trotz des einfachen Schreibstils gelingt es Benedict Wells, die schwierigsten Gefühle treffend und verständlich zu schildern. Die Stimmung ergreift vom Leser Besitz. Unauffällig in die Geschichte verwoben sind Vergleiche und Metaphern, die diese vom Autor erzeugte emotionale Tiefe ergreifend veranschaulichen. Wells stellt ebenso Bezüge zu zahlreichen Autoren der Weltliteratur (z.B. Carson McCullers, F.Scott Fitzgerald uvm.) und bindet auch Liedtexte in seine Geschichte ein. Der Grundton der Geschichte ist ein bedrückender, melancholischer Klang. Die traurige Atmosphäre, die Wells  perfekt einzufangen versteht, zieht sich durch den gesamten Roman. In als auch zwischen den Zeilen zeigt sich nie enden wollender Schwermut. Er umhüllt die Figuren wie dichter Nebel. 

"Der Tod ist groß. / Wir sind die seinen, / lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten unter uns." (Rilke; S. 314)
Der Tod ist allgegenwärtig. Der Tod ist der ewige Begleiter, der Schatten der nicht von der Seite weicht. Unfall, Krankheit, Mord, Selbstmord. Es gibt viele Arten, das Leben zu verlieren. Als eines der führenden Leitthemen begleitet es die Figuren und das Geschehen von der ersten bis zur letzten Seite. Nach der Angst, dann dem Kampf folgt die Akzeptanz. Es geht um die Endlichkeit von Allem und schließlich den damit einhergehenden Versuch, die vorhandene Zeit zu genießen und in sich aufzusaugen. 

Zusammengefasst: Benedict Wells porträtiert in seinem Roman "Vom Ende der Einsamkeit" das Leben junger Menschen, das stark geprägt und verändert wurde durch Tod, Einsamkeit und orientierungsloser Suche nach dem jeweiligen Platz in der Welt. Anhand authentischer, nicht klischeehaften Figuren und einem sehr sympatischen Protagonisten erzählt der Autor mit einer  unglaublichen Erzählstimme die mitreißende und atmosphärisch brilliante Geschichte vom Schicksal einer Familie. 

5/5*

Ich persönlich habe den Roman wortwörtlich inhaliert, in mich aufgesogen. Begonnen und binnen kürzester Zeit wieder beendet. Nicht immer ist es leicht, meinen ununterbrochenen Gedankenstrom in den Hintergrund zu drängen und meine volle Konzentration ohne große Mühe zu bekommen. Ich wurde mit dem fließenden, tosenden Strom mitgerissen, gleich dem Hund, und komme nicht mehr los von der Geschichte Jules. Ich war ergriffen von den großteils unvorhersehbaren Wendungen und habe seit langem wieder wegen eines Buches geweint. 
Für mich bereits jetzt eines der Lesehighlights aus dem Jahr 2016. 
Danke dafür, Herr Wells! Sie sind stark im Ei! Ebenfalls dafür, dass durch die vielen, vielen tollen Zitate nun all meine kleinen StickyNotes verbraucht, da in ihr Buch entschwunden sind! 


Sonntag, 22. Juli 2018

Der Kuss; Kunst und Leben der Camille Claudel - Anne Delbée

Autor: Anne Delbée
Titel: Der Kuss; Kunst und Leben der Camille Claudel
Originaltitel: Une Femme
Umfang: 424 Seiten
Preis: 10,00 Euro (D)
ISBN: 978 3 442 73054 4
Erschienen am: 10. Auflage März 2003
Verlag: btb 

Sie ist jung und talentiert. Schon von Kindheit an kennt sie ihre Bestimmung. Sie will formen, kneten, gestalten. Sie ist die französische Bildhauerin Camille Claudel. Auf der Suche nach Selbstverwirklichung führt sie ihr Weg nach Paris, wo sie den vieler weiterer Künstler kreuzen wird, unter anderem auch den Auguste Rodins. Obgleich großartige Meisterwerke durch ihre Hände entstehen, muss sie sich unentwegt zur Wehr setzen gegen üble Nachrede und Neider, gegen Ablehnung ihrer Person und ihrer Fähigkeiten sowie  dem Druck durch gesellschaftliche Normen des 19&20 Jahrhunderts.
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Es ist mitreißend und tragisch die Entwicklung Camille Claudels zu sehen. In den Anfangsjahren, in denen sie ihr Talent und ihre Liebe zur Kunst entdeckt, ist sie jung. Motivation und Tatendrang. treiben sie an, schüren die Rebellion gegen Mutter und Schwester. Sie ist selbstbewusst und stark, strotzt geradezu vor Kraft.   Sie setzt sich in Paris durch und beweist ihr Können, sodass schließlich Rodin und weitere Künstler auf sie aufmerksam werden. Doch das Künstlerleben ist ernüchternd, schmerzvoll, kräftezehrend. Die Unsicherheit,  der ausbleibende Erfolg und der stetige Leistungsdruck brechen schließlich selbst Camille Claudel. Der große Durchbruch bleibt aus, nach Jahren werden ihre Werke immer noch lediglich belächelt und mit Rodin in Verbindung gebracht. Das Geld reicht nicht, sodass der Hunger immer größer und ihre Behausung immer karger wird. Sie flüchtet sich in die Isolation und ist allein mit ewig kreisenden Gedanken über ihr Leben, die Ängste gebähren und sie in den Wahnsinn treiben. 
Und doch hinterlässt ihre Stärke, mit der sie bis zum Schluss ihren Mitmenschen begegnet, einen bleibenden Eindruck. Sie entspricht nicht dem damaligen Frauenbild, sondern ist ihm weit – um Jahrhunderte - voraus.
  
Besonders deutlich zeichnen sich daher die Spannungen zwischen Camille und ihrer Umwelt ab. Ewig in der Kritik von Mutter, Schwester oder der Gesellschaft geht sie dennoch ihren eigenen Weg und verfolgt ihren Traum. Sie erfüllt nicht die Erwartungen an eine junge Frau um die Jahrhundertwende. Und doch lässt sie sich nicht klein kriegen, sondern steht zu sich und ihren Wünschen.
Immer wieder muss sie sich allein durchsetzten und ihrem Umfeld trotzen. Sie steht ewig im Schatten der großen Männer und kämpft verzweifelt dagegen an. Sie wird nicht als Einzelfigur oder als selbstständige Künstlerin wahrgenommen, sondern lediglich als Assistentin Rodins oder Schwester des Schriftstellers Paul Claudel. 
Es ist erschreckend zu beobachten, wie viel Macht Männer über Frauen -  Auguste Rodin, Paul Claudel, bedeutende männliche Kunstkritiker über Camille Claudel- zu der damaligen Zeit haben. In dieser patriarchalisch geprägten Welt besteht keine große Chance für emanzipierte Frauen wie sie... und doch gibt sie nicht auf. Bis zu dem Tag, an dem ihr Bruder über ihr Leben verfügt und sie wegsperren lässt, versucht sie es mit aller Kraft.

Die Liebe zu Rodin zerreißt die junge Künstlerin. Obgleich mehr als 20 Jahre zwischen den beiden liegen, sind sie talentmäßig ebenbürtig. Sie ist seine Muse, seine Geliebte, seine Stütze und auch er die Quelle der Inspiration für einige ihrer tragischen Skulpturen.
Das Zugeständnis der in ihr aufkeimenden Liebe verändert Camille. Sie überschreitet mit Rodin die Grenzen, erfährt Leidenschaft und körperliche Lust. Sie entdeckt den menschlichen Körper und verbessert dadurch ihre Wahrnehmung, auf deren Hilfe sie für das Bildhauern angewiesen ist.
Der Kuss zwischen den beiden Liebenden wird Camille Claudels Welt für immer entscheidend prägen und verändern. Der Titel der Biographie weist auf diesem lebensverändernden Moment hin. Die Szenerie, die Anne Delbée in diesen Moment beschreibt, ist atmosphärisch und von Gefühl geradezu aufgeladen. Sie erinnert in der Wahl des Stilmittels des „heftigen Unwetters“ und „Gewitters“ an Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.
Die Liebe, die zu Beginn noch beflügelt und Camille Raum für ihr Werken gibt, verletzt mit dem Vortgang der Zeit. Es ist ein Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, bei dem Rodins Frau Rose Beuret schließlich gewinnen wird. Dennoch wird Rodin Camille bis zum Schluss  unterstützen, gleichwohl Camille in einen Wahn verfallen und Paranoia gegen ihren Ausbilder entwickeln wird.
Es stehen Vorwürfe des Ideenraubs als auch des Kunstwerkdiebstahl im Raum. Bis heute ist nicht klar, inwiefern die französische Bildhauerin Recht mit ihren Anschuldigungen hat. Noch zu Zeiten, in denen sie als Assistentin Rodins in seinem Atelier arbeitete, ähnelten sich die beiden stark im Stil, was oft zu Camilles Nachteil ausgelegt wurde. Bereits zu diesem Zeitpunkt spürte sie den Druck und die Ungerechtigkeiten der damaligen Kunstbranche.

Anne Delbée, Theaterregisseurin und große Bewunderin Paul Claudels, recherchierte aufgrund persönlicher Neugierde über Camille Claudel und war so fasziniert und ergriffen von ihrem Schicksal, dass sie jenes als Theaterstück „Une Femme“ (Eine Frau) verarbeitete und inszenierte. Auf dieser Grundlage entstand der Dokumentarroman, in dem sie sich selbst an den Leser wendet und von ihrer Suche erzählt.
Durch die Romanform, die die Autorin für ihre Biografie wählt, ist es dem Leser ein Leichtes, sich einen Einblick in die !mögliche! Gefühls – und Gedankenwelt der jungen Frau zu verschaffen. Gleichzeitig müssen all diese jedoch unter Vorbehalt betrachtet werden, da der Dokumentarroman sich zwar auf historische und biografische Fakten beruft, letztlich aber ein Roman bleibt und somit sich Fiktion und Fakt vermischen.
Das Buch besteht einerseits aus der Nacherzählung des Leben Claudels, andererseits aus kurzen Briefauszügen von Camille an Paul Claudel, geschrieben in der Anstalt, in der Camille Claudel die letzten 30 Jahre ihres Lebens verbingt. Zusätzlich kommentiert die Autorin stellenweise das Geschehen mit kurzen Beiträgen, in denen sie die Gefühlswelt zu verstehen und zu ergründen versucht, selbst zu Camille Claudel wird.
Der Schreibstil der Autorin ist fokussiert auf die Gefühle und die damit verbundene Wahrnehmung der Welt. Mit Hilfe des Präsens, Metaphern, zahlreichen Wortwiederholungen und kurzen Sätzen wird versucht, sich vollständig dem Leben der Künstlerin zu nähern, in die Rolle selbst hineinzuschlüpfen. Wie ein Bühnenbild wird die Szenerie Requisit um Requisit ausgebaut und dargestellt. Wirkt dieser Stil auf den ein oder anderen gekünstelt, so kann er meinerseits besonders im Mittelteil des Buches überzeugen.


Zusammengefasst: Über das Leben einer solch mutigen und starken Frau zu lesen ist mehr als inspirierend und beeindruckend. Nach kurzer Eingewöhnungsphase reißt einen der Dokumentarroman mit und entführt einen in die stürmische Welt der Camille Claudel. Auch wenn die Biografie streckenweise etwas langatmig ist oder an Spannung verliert, so bleiben dennoch ausdrucksstarke Szenen und Details in Erinnerung.

*3/5

Freitag, 8. Juli 2016

Die Königin der Schatten; Verflucht - Erika Johansen [Achtung: SPOILER!]

Autor: Erika Johansen
Titel: Die Königin der Schatten
Originaltitel: The Invasion of Tearling
Umfang: 608 Seiten
Preis: 14,99 Euro (D)
ISBN: 978-3453315877
Erschienen am: 16.05.2016
Verlag: Heyne

Kelsea Glynn, die neue  Königin von Tearling, sieht sich einem Berg von Problemen gegenüber: Seitdem sie die monatliche Lieferung an die Königin des Nachbareiches  Mortmesme eingestellt hat, ist die Armee der Mort auf dem Vormarsch Richtung Neulondon. Wie kann sie ihr Königreich vor dem drohenden Krieg und somit dem Untergang Tearlings bewahren? Während die Vorbereitungen auf die bevorstehende Invasion auf Hochtouren laufen, sieht sich Kelsea mit weiteren Fragen und Aufgaben konfrontiert. Neben dem Geheimnis um ihre Herkunft und dem steten Kampf um Unterstützung ihrer Untertanen, rauben ihr Visionen aus einer anderen Zeit den Schlaf und stellen sie vor weitere Rätsel.
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Auch im zweiten Teil der Trilogie sticht der Roman durch Kelsea als Hauptfigur  aus der Masse hervor. Die durch den ersten Teil als starke Protagonistin  bekannte junge Frau überzeugt auch im Fortgang der Geschichte durch Kampfgeist, Durchsetzungswillen, Opferbereitschaft, Intelligenz, Neugierde und politisches Verständnis. Sie verschließt die Augen nicht vor Unannehmlichkeiten, sondern sucht ununterbrochen nach Lösungsstrategien.
Doch Kelsea ist nicht unfehlbar. Sie kämpft nicht nur gegen zahlreiche Gegner, sondern auch gegen sich selbst. Sie weiß genau wo ihre Schwachstellen liegen: Sie ist  aggressiv, impulsiv und jähzornig, trotzig wie ein Kind. Sie besitzt feste Vorstellungen,  die kein gut gemeinter Rat beeinflussen kann. Hinzu kommt, dass Kelsea, verschuldet durch ihre Vergangenheit, einen Kampf gegen ihren eigenen Körper führt. Obgleich sie Eitelkeit verurteilt, fühlt sie sich unwohl und wünscht sie sich  sehnlichst ein schöneres, weiblicheres, sinnlicheres Äußeres. Das Interesse am männlichen Geschlecht sowie der Wunsch nach Sexualität rücken stärker in den Fokus und lenken die junge Königin ab.
Ebenso durchläuft die Protagonistin nicht nur einen äußeren, sondern auch einen inneren Wandel: Kelsea, mit der Ausweglosigkeit sowie  den hohen Ansprüchen anderer und ihrer selbst konfrontiert, wird härter, roher, brutaler. Sie will sich selbst, ihren Beratern und Beschützern aber auch dem Volk gerecht werden und droht dabei zu scheitern. Aus Mitgefühl, Verständnis und dem Wunsch nach Ausmerzung der Ungerechtigkeiten drohen Kälte und Liebe zur Gewalt zu werden. Etwas Dunkles nistet sich in Kelseas Geist ein und verschleiert ihre Gedanken.
Diese Veränderungen, die nicht nur der Verantwortung und Last des königlichen Amtes, sondern auch dunkler Magie geschuldet sind, bleiben von den Menschen in ihrer Umgebung nicht unbemerkt.

Neben der Glynn-Königin nehmen zahlreiche Nebenfiguren einen großen Raum der Geschichte ein und spielen eine wichtige Rolle für den weiteren Handlungsverlauf. Immer mit von der Partie: Die Garde der Königin. Anfangs als bloßer Schutz nehmen die Gardisten im weiteren Verlauf beratende und erzieherische Tätigkeiten ein. Durch die ständige Präsenz der Männer entsteht ein familiäres Verhältnis zwischen Königin und Leibwächtern. Ebenso zeichnet sich immer deutlicher ein romantisches Interesse ab.
Auch die Gegenspielerin Kelseas, genannt die rote Königin, wird nun aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sodass sich neue Facetten zu Zeigen beginnen. Aus einer lediglich bösen und machtgierigen Figur wird eine Frau mit ergreifender Geschichte und großen Ängsten.
Besonders schön ist, dass sich nicht nur bei der Protagonistin, sondern mit der Zeit auch in den unterschiedlichsten Figuren ein gleiches Element finden lässt: Das Hinterfragen von als auch die Rebellion gegen festgefahrene Muster, Regeln und Strukturen.

Einige neue Handlungsstränge stoßen zu bereits eingeführten dazu. Erika Johansen verliert nicht den Überblick, sondert widmet sich ihren unzähligen Figuren, lässt Raum für verschiedene Geschichten und Werdegänge. Darüber hinaus lässt sich bereits ein grobes, unscharfes Bild erkennen, zu dem die Autorin nach und nach mehr Informationen durchsickern lässt. Ein Puzzleteil folgt dem nächsten und auch wenn nicht jede Wendung gänzlich überrascht, so bleibt das Ende der Geschichte weiterhin unvorhersehbar und somit spannend!
Auch Magie und Übersinnliches sind wieder eng mit Kelseas Schicksal verwoben. Die blauen Saphire und die mit ihnen einhergehenden magischen Kräfte werfen weitere Fragen auf. Zusätzlich verfügen weitere Menschen, die Kelseas Weg kreuzen, über besondere und hellsichtige Gaben.

Das Gesellschaftsbild Tearlings ist die letzten Jahrzehnte durch Unterdrückung und Ausbeutung der vermeidlich Schwachen, Armen und Schutzbedürftigen stark geprägt worden. Von Kindheit an wurde Kelsea darauf vorbereitet, dieser grundlegenden Ungerechtigkeit entschlossen entgegen zu treten und sie zu beseitigen. Seit Beginn ihrer Amtszeit strebt Kelsea nach politischer und gesellschaftlicher Verbesserung. Sie hinterfragt die Vergangenheit und versucht alte Fehler zu vermeiden.
Behilflich dabei sind ihr „Visionen“, in denen Kelsea in die Vergangenheit blicken kann. Ein zusätzlicher Handlungsstrang wird eingeführt: Lily, eine junge Frau aus der Zeit vor der Überfahrt und somit vor der Gründung des Reiches Tearling, lebt im NewYork der Zukunft. Die westliche Welt hat sich stark verändert, beugt sich dem Patriachat und wird beherrscht durch Technologie, Überwachung, und Ausbeutung. Es ist die Dekadenz des 21. Jahrhundert.
Durch diesen dystopischen Aspekt stellt Erika Johansen einen Bezug zu der aktuellen Gesellschaft her. Sie zeichnet das Ende der heutigen Zivilisation und die daraus hervorgehende Vorstellung einer besseren Welt, die in den Bereichen der Technologie, Medizin und Wissenschaften  rückläufig ist und einige Parallelen zum Mittelalter aufweist.  Dafür wird sie getragen durch eine politische Ideologie,  die das Wohlergehen eines jeden Menschen im Vordergrund hat. 
In Gegenwart als auch Vergangenheit lassen sich immer wieder Kritik am zu konservativen und theokratischen System (dargestellt durch den Fanatismus der Kirche und das strenge Bild der Geschlechterrollen) oder zu kapitalistischen System (dargestellt durch die Gesellschaftsform der Plutokratie) finden. Die Autorin präsentiert Ideen einer neuen, gerechten Welt mit sozialistischen und linksliberalen Grundzügen.
Fragwürdig bleibt jedoch, ob diese Ideologie „des Rätsels Lösung“ ist und eine durch und durch bessere Gesellschaftsform darstellt. Besonders interessant ist, dass trotz der Vision einer besseren Welt weiterhin ähnliche Fehler begangen werden und sich somit die Utopie zu einer Dystopie entwickelt. Zudem zeigt sich deutlich das Motiv des Menschen, der von seiner eigenen Fehlbarkeit und der Durchsetzungskraft negativer Eigenschaften immer wieder eingeholt und bestimmt wird.

Zusammengefasst: Hinter der spannenden Fantasygeschichte/Dystopie um Kelsea und den Kampf um das Königreich Tearling tummeln sich viele versteckte Themen und Aussagen zwischen den Zeilen. Eine gelungene Fortsetzung, die die Geschehnisse des ersten Bandes aufgreift und weiterspinnt und durch vielschichtige Figuren, allen voran die Protagonistin, überzeugt. Ein zweiter Teil, der sehr neugierig und gespannt auf den Abschluss der Trilogie macht! 

4,5/5*